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Inklusive Geschichtsschreibung im Archiv

von Dominik Erdmann (Mitglied der AG Barrierefreiheit)

Das Archiv der Fürst Donnersmarck-Stiftung versteht sich als Ort partizipativer Erinnerungskultur. Wie kann Inklusion im Archiv funktionieren? Welche Zukunftsperspektiven können sich daraus für das archivarische Selbstverständnis und die Arbeit von Archiven ergeben? Und was können wir als Gesellschaft aus einem inklusiven Ansatz im Archiv gewinnen?

Barrierefreiheit und Inklusion – Zwei Dimensionen von Teilhabe

Traditionell dienen Archive der Sicherung, Erschließung und Bereitstellung historischer Dokumente. Als solche handelt es sich bei ihnen um weitgehend geschlossene Räume mit hohen Zugangsbeschränkungen – anders ausgedrückt: Archive sind oft nicht barrierefrei zugänglich. Das betrifft die Räumlichkeiten ebenso wie die Art der Aufbewahrung des Archivguts, aber auch das Selbstverständnis und den Habitus von archivarischer und historischer Arbeit. Bei allem Willen zur Niedrigschwelligkeit und bei einem steigenden Bewusstsein für den Abbau von Barrieren sind Archive weiterhin stark kontrollierte, hierarchisch strukturierte und exklusive Orte. Im Kern widersprechen sie damit weiterhin dem Ideal und dem gesetzlichen Anspruch einer inklusiven Gesellschaft, in der jede*r nach seinen Möglichkeiten an allen Angeboten teilhaben und partizipieren kann.
Doch in den letzten Jahren wandelt sich das Selbstverständnis von Archiven zunehmend: vom abgeschotteten Speicher hin zum offenen Ort des Dialogs – insbesondere dann, wenn es um die Geschichte gesellschaftlicher Gruppen geht, die lange nicht selbst zu Wort kamen. Das Archiv der Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST) zu Berlin – die sich seit 1916 für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzt – stellt sich diesem Wandel offensiv. Es versteht sich nicht nur als Gedächtnis einer Institution und als abgeschotteter Hort der materiellen Zeugnisse ihrer Geschichte, sondern als aktiver Raum partizipativer Erinnerungskultur – und vor allem als inklusives Angebot an Menschen mit Behinderung, ihre eigene Geschichte zu erforschen und entlang ihrer Interessen mitzugestalten.

Abb. 1: Eine Rampe ist schon mal ein guter Anfang. Der Eingang zum Archiv der FDST.

Inklusion als Gestaltungsprinzip

Inklusion bedeutet mehr als Zugänglichkeit. Sie setzt voraus, dass Menschen mit Behinderung nicht nur dabei sein dürfen, sondern aktiv mitwirken – auf Augenhöhe. Genau hier setzt das Archiv der FDST an: Es lädt (ehemalige) Klient*innen sowie Mitarbeitende mit und ohne Behinderung ein, sich mit der Geschichte der Stiftung und ihrer eigenen Lebensrealität auseinanderzusetzen – nicht passiv konsumierend, sondern aktiv gestaltend.
Zentral ist dabei der Perspektivwechsel: Geschichte wird nicht „über“ Menschen mit Behinderung erzählt, sondern von ihnen und gemeinsam mit ihnen. Die Formate und der Output sind dabei offen: Jede*r kann mit seinen eigenen Interessen an das Archivgut herantreten und seine Geschichte in seinem bevorzugten Format erzählen oder konsumieren. Das Archiv wird so zu einem partizipativen Raum, in dem individuelle Erfahrungen, Erinnerungen und Deutungen sichtbar und wirksam werden.

Formate der Teilhabe: Partizipative Workshops

Ein zentrales Instrument des Archivs der FDST, diesen Anspruch umzusetzen, sind partizipative Workshops. Im Vorfeld werden Themen gemeinsam erörtert und entwickelt; das Archiv stellt passende Quellen zur Verfügung. Gemeinsam werden diese dann gesichtet, diskutiert, in größere Zusammenhänge gestellt und nach weiteren Archivalien recherchiert.
Beispielhaft wurde dies in Zusammenhang mit dem umfangreichen, unerschlossenen Fotobestand des Archivs umgesetzt. Die Fotografien wurden nie systematisch abgelegt und beschriftet. Die besondere Problematik liegt darin, dass die Fotografien von sich aus nichts über die Entstehungszusammenhänge und die auf ihnen abgebildeten Geschehnisse oder Personen sagen. Langjährige Klient*innen und Mitarbeitende der Stiftung wurden deshalb eingeladen, um die Fotos gemeinsam zu sichten und sich anhand von ihnen über persönliche Erinnerungen und Erfahrungen auszutauschen. Ganz nebenbei halfen sie dem Archiv, Informationen zu den Fotos zu sammeln und diese zu erschließen. Der Workshop generierte somit Wissen und stärkte zugleich das Gefühl der Zugehörigkeit. Das ist in einer Institution wie der FDST, in der Mitarbeitende und Klient*innen oft viele Jahrzehnte zusammenleben, von besonderer Bedeutung. Das Archiv wurde so zum Ort kollektiver Erinnerung und der Anerkennung individueller Lebensgeschichten und Arbeitsbiografien.

Thematische Veranstaltungen: Die „Diskriminierungsgruppe“

Daneben finden thematische Veranstaltungen statt, wie beispielsweise ein Workshop zur Aufarbeitung der Geschichte der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Die sogenannte „Diskriminierungsgruppe“ befasste sich ursprünglich aus einer Gegenwartsperspektive mit diesem Thema. Künftig möchte sie sich auch mit der Geschichte der Diskriminierung und dem Wandel des Diskriminierungsverständnisses befassen. In einem ersten Workshop, der im September 2025 stattgefunden hat, wurde die Phase der „Normalisierung“ ab Mitte der 1970er Jahre in den Blick genommen. Das ursprünglich aus Skandinavien stammende Normalisierungsprinzip sah eine Angleichung der Lebensverhältnisse von Menschen mit und ohne Behinderung vor. Bei der Umsetzung dieses Ansatzes kam es in der FDST (wie in anderen Einrichtungen) jedoch zu Konflikten: Einerseits hatten die älteren Generationen der Betreuer*innen Akzeptanzprobleme mit dem Ansatz, andererseits überforderte das Normalisierungsprinzip die Klient*innen und Mitarbeitenden. Die Diskriminierungsgruppe interessiert sich nun dafür, inwiefern der Ansatz der Normalisierung zu diskriminierendem und tendenziell missbräuchlichem Umgang führte.

Seit 15 Jahren: Oral-History-Programm

Neben solchen allgemeinen und thematisch fokussierten Formaten betreibt das Archiv seit 2010 ein systematisches Oral-History-Programm, in dem sowohl Mitarbeitende als auch Klient*innen zu ihrer Biografie und zur Entwicklung der Stiftung interviewt werden. Besonders Menschen mit Behinderung erhalten hier Raum, ihre Sicht auf Vergangenheit und Gegenwart zu artikulieren – in eigenen Worten, mit eigenen Schwerpunkten. Ein Projekt mit über 30 schwer mehrfachbehinderten Bewohnerinnen aus betreuten Einrichtungen zeigte, wie wirkungsvoll solche Ansätze sein können: Ausgehend von einem persönlichen Gegenstand – ihrem Lieblingsobjekt – erzählten sie dessen Geschichte. In allen Fällen führten diese Erzählungen schnell weg von dem Gegenstand, der nur Anlass für das Gespräch geben sollte. Die Beteiligten berichteten über ihre Biografien und ihre individuellen Erfahrungen. Auf diese Weise wurden Beispiele der vielfältigen Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Behinderung für das Archiv gesammelt. Das Interviewprojekt hatte allerdings auch Auswirkungen auf die sozialpädagogische Arbeit in den Einrichtungen: Vielen Mitarbeitenden waren die Biografien der Klient*innen nur ansatzweise bekannt und gleichzeitig hatte das Projekt positive Auswirkungen auf die einzelnen Klient*innen und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl.

Das Archiv als inklusiver Kommunikationsraum…

Für die FDST entstehen durch solche Projekte sowohl neue Quellen als auch neue Perspektiven auf die eigene Geschichte. Die historische Forschung, insbesondere im Bereich der Disability History, profitiert von einem solchen Vorgehen, da Erfahrungen dokumentiert werden, die bislang kaum überliefert sind. Für die beteiligten Personen bedeuten die Projekte zudem eine Würdigung ihrer Lebenserfahrung und -leistung, die ansonsten unsichtbar bliebe. Im Falle der Mitarbeitenden hat das den positiven Nebeneffekt, dass deren emotionale Bindung an die Institution gestärkt wird – ein nicht zu unterschätzender Faktor angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels in den sozialen Berufen.

Abb. 2: Aber: Es gibt noch viel zu tun, bis das Archiv der FDST und weitere Archive tatsächlich Barrierefrei und irgendwann zu Orten gelebter Inklusion werden. Ein Blick in die (zu schmalen) Gänge des Archivs der FDST.

…und Ort gelebter Diversität

Im historischen Archiv der Fürst Donnersmarck-Stiftung wird Vergangenes nicht nur archiviert. Es schafft auch neue Bedeutungsräume für Erinnerung, Teilhabe und ein inklusives Verständnis von Geschichte. Das zuletzt genannte Interviewprojekt zeigt zudem, dass Archivarbeit auch jenseits der Felder Sicherung, Erschließung und Bereitstellung historischer Dokumente stattfinden kann.
Dennoch: Es gibt noch so einiges zu tun, bis Barrierefreiheit und Inklusion in Archiven tatsächlich umgesetzt und eine Selbstverständlichkeit sind. Wir haben uns auf den Weg gemacht, das Archiv zu einem Kommunikationsraum umzugestalten, der eine aktive, gestaltende und aufklärende Funktion ausübt. Und das ist gerade in Gesellschaften von Bedeutung, die sich ihrer Diversität zunehmend bewusst werden, die aber zugleich vonseiten rechter Ideologien und rückwärtsgewandter Propaganda zusehends bedroht sind.


AG Barrierefreiheit

Die AG Barrierefreiheit besteht seit Dez. 2022 und gehört zum Arbeitskreis Offene Archive im VdA. Wir arbeiten digital / online und so, wie es jede/r von uns einrichten kann. Wir freuen uns über Interessierte, die mitmachen möchten; einfach E-Mail an ag-barrierefreiheit@gmx.de. Weiteres zum Einstieg: https://archive20.hypotheses.org/11490.

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OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
AG Barrierefreiheit (6. Oktober 2025). Inklusive Geschichtsschreibung im Archiv. Archive 2.0. Abgerufen am 17. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14uwr


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